Back to 1985

Frühling in Manali

Ich habe beschlossen, meine letzten paar Indientage nochmals in den Bergen zu verbringen. Im Gegensatz zu den sehr hoch gelegenen und deshalb immer noch unzugänglichen Tälern von Kashmir und Ladakh im äussersten Norden, hat im etwas südlicher gelegenen Staat Himachal Pradesh bereits vielerorts der Frühling Einzug gehalten. In den meisten Orten ist der Schnee bereits weggeschmolzen und tagsüber zeigt das Thermometer dank eitel Sonnenschein angenehme 15 bis 20°C. Während man in der unmittelbaren Umgebung von Manali mit Hochdruck tausende von Obstbäumen zurückschneidet, ist im ein paar hundert Meter höher gelegenen und rund eine halbe Stunde entfernt liegenden Solang Valley immer noch Wintersport angesagt.

Auf den ersten Blick ist nicht viel anders als bei uns: Hunderte von parkierten Autos säumen die Strasse, die zum Skizentrum führt, und etwas weiter entfernt fahren die Kabinen der brandneuen etwa einen Kilometer langen 6er-Gondel den Berg hinauf.

Vintage Skidress + Gummistiefel = 485 Rs. only

Doch schon bald zeigen sich feine Unterschiede: So schleppt zum Beispiel niemand Skis mit sich rum! Dafür tragen restlos alle einen supersexy 80-ies Skioverall in Smarties-bunten, wenn auch verwaschenen Farben! Der Grund dafür ist nicht etwa eine plötzliche Renaissance der Achtzigerjahre in der indischen Modewelt, sondern ganz einfach der Umstand, dass seither nie ein modisches Update stattgefunden hat. Von den zahlreichen indischen Touristen aus Dehli (oder noch südlicher) besitzt selbstredend niemand eine eigene Wintersportgarderobe. Diese wird deshalb an einem der zahllosen Stände am Strassenrand (zusammen mit einem Paar Gummistiefel) für eine Handvoll Rupien tage- und familienweise gemietet; selbstverständlich ein absolutes must, schliesslich ist man im Schnee unterwegs! Und weil die Vermieter, seit „Final Countdown“ im Radio und „Mac Gyver“ am Fernsehen lief, nie eine neue Auslage angeschafft haben, sind alle die auf den Fotos sichtbaren Anzüge total vintage! Ich komme mir vor wie im Skilager vor 25 Jahren.

Mäi friend, you want ski rent?

Während also die Miete eines pink-gelben original-80-ies Skidress‘ ein Klacks ist, gestaltet sich die Beschaffung von Skis etwas komplizierter. Wir befinden uns zwar im Hauptskiort des Bergstaates Himachal Pradesh, es soll aber bloss niemand auf die Idee kommen, dass man hier, wie bei uns, vor der Abfahrt noch schnell beim Schneesport Käser an der Talstation ein Paar Skischuhe und die dazu passenden Latten auswählen kann. Nein, nein, nein. Wer Skifahren will (und das will offenbar ausser mir niemand), der muss Geduld mitbringen. Es gibt keine Geschäfte oder Stände, die eine Auswahl von Skis zur Miete anbieten. Stattdessen gibt es vereinzelte Herren, die irgendwann im Verlauf ihres Lebens in den Besitz eines Paars Ski inkl. Skischuhe gekommen sind und nun offenbar ihren Lebensunterhalt mittels Ausleihe derjenigen zu bestreiten versuchen. Du wolle Skifahre im Solang Valley? So gehts:

  1. Suche einen Mann, der mit Skis rumläuft.
  2. Frage diesen, ob die Skis zu vermieten seien. Falls nein, gehe zu 1)
  3. Bestehe darauf, die Schuhe anzuprobieren. Obwohl das allen bei der Miete von Gummistiefeln (siehe oben) einleuchtet, scheint das bei der Miete von Skis nicht relevant zu sein. Falls die Schuhe nicht passen, oder alle Schnallen abgerissen sind, oder kein Innenschuh vorhanden ist, etc. gehe zu 1)
  4. Schau dir die zugehörigen Skis an. Kanten musst du nicht suchen, die sind eh‘ nicht vorhanden. Weil alles im Angebot mindestens 20 Jahre alt ist, kannst du auch Carving vergessen, es gibt nur gerade geschnittene Latten im Angebot. In Anbetracht der Tatsache, dass es vermutlich schon einige Jährchen her ist, seit du zum letzten Mal mit solchen Brettern zu Tal gebrannt bist, nimm vielleicht eher kürzere, und nicht, wie früher üblich, 20cm längere als du selber gross bist. Falls die Skis zu lang, gespalten, mit wackeliger Bindung oder sonst irgendwie nicht ganz koscher sind, dann gehe zu 1)
  5. Falls die Schuhe passen wie angegossen, aber die Skis Müll sind: vergiss mix’n’match mit irgendwelchen Skiern eines anderen Verleihers. Keiner von denen weiss, wie man eine Bindung anpasst oder einstellt, und jeder wird sich standhaft weigern, irgend etwas an seinem „funktionierenden“ Set zu ändern. Von Skifahren hat grundsätzlich keiner der Beteiligten eine Ahnung. Darum: gehe zu 1)
  6. Verhandle den Preis, den du für dein halbwegs passendes Do-it-yourself-Suizid-Set zu zahlen bereit bist. Ich würde sicher nicht mehr als 200 Rs. für eine Abfahrt/Stunde oder 500 Rs. für einen Tag zahlen. Falls keine Einigung möglich: gehe zu 1)
  7. Am Farkarten-Schalter ein Billet kaufen

    Zieh die Schuhe an, buckle die Skis und mach dich auf zur Gondelbahn. Geniesse die auf dir liegenden und dir folgenden bewundernden Blicke der restlichen Touristen und Einheimischen. Du bist garantiert der/die einzige weit und breit, der es wagt. Löse ein völlig überteuertes Skiliftticket für eine Bergfahrt für 400 Rs. Lass dich vom mitleidigen Lächeln und den hochgezogenen Augenbrauen der Kassiererin nicht verunsichern. Fahre bergwärts und erdulde unterwegs lächelnd die zahlreichen Anfragen von anderen (indischen) Touristen, die unbedingt ein Foto von sich mit dir, dem Hardcore-Skifahrer, möchten.

  8. Oben angekommen, suche die Piste. Wenn du sie nicht finden kannst (was wahrscheinlich ist, denn es gibt keine), dann frag beim Bahnpersonal nach, wo man am besten runterfährt. Man wird dir irgend eine Richtung zeigen. Mit etwas Glück siehst du im sulzigen Schnee schwache Spuren von anderen Verrückten, die gestern, vorgestern oder letzte Woche runtergefahren sind, und denen du folgen kannst.
  9. Fahre los! Geniesse den Thrill, mit 20 jährigen ungewachsten Skis, ohne Kanten, mit nicht eingestellter Bindung und schmerzenden Schuhen auf unpräparierter Piste zu Tal zu brausen. Hab keine Hemmungen, Stemmbogen zu gebrauchen, es ist eh‘ niemand da, der dich sehen kann. Apropos: Versuche, nicht daran zu denken, was passiert, wenn du verunfallen solltest. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gar nichts. Pistenkontrolle am Abend? Höre ich da verhaltenes Gelächter im Saal?
  10. Nach ca. einer Viertelstunde erreichst du das Ende der etwa einen Kilometer langen Abfahrt und damit den Talboden, wo die Action für all die anderen Wintersportler stattfindet. Hier kannst du im moderaten Gefälle noch ein paar mehr oder weniger gekonnte Kürvlein hinlegen, um Ausrufe der Bewunderung und ausgestreckte Arme und Zeigefinger zu provozieren.

Vor der Abfahrt

To zorb or not to zorb

Passe aber auf, dass du am Schluss nicht noch von einem 4-Wheeler überfahren, von einem landenden Tandem-Paraglider umgepflügt, von einem Zorbing-Ball überrollt oder von einem berittenen Yak zu Boden getrampelt wirst. Denn so verbringt man in Indien allem Anschein nach Winterferien. Skifahren gehört jedenfalls nicht dazu.

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