Land in Sicht!

Ich bin mal wieder etwas spät dran mit schreiben, äxgüsi. Tatsächlich sind wir schon vor einer Woche, am 3. Juni, nach 18 Tagen Überfahrt wohlbehalten in Horta auf den Azoren eingelaufen. Doch schön eines nach dem anderen…

Zum letzten mal Land

Goodbye St. Martin, Adios Karibik!

Nachdem wir am 15. Mai am frühen Nachmittag St. Martin und damit die Karibik am Horizont zurück gelassen haben, richten wir unseren Kurs auf die 2100 (See-) Meilen entfernten Azoren aus (zu Beginn noch auf Flores). Der Wind kommt aus Osten, das passt hervorragend, und tatsächlich können wir so bereits in den ersten 2 Tagen schnurgerade 300 Meilen auf Amwind-Kurs Richtung Zielhafen gewinnen, ohne auch nur einmal die Segel nachzustellen oder eine Schot in die Hand zu nehmen. Natürlich können wir es unter diesen Umständen nicht lassen, an den Fingern abzuzählen, wie rasch wir unter diesen Umständen ankommen werden (14 Tage!) aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.

Wir fahren grundsätzlich 24 Stunden am Tag, d.h. eine Person ist immer auf Wache. Tagsüber haben wir 2-Stunden Einteilung, was für jeden 2 Tag-Wachen ergibt. Während der Nacht haben wir 4/3/4-Stundenwachen, wobei Lorenzo die erste Wache von 20 Uhr bis Mitternacht, Philipp (der Skipper) die mittlere bis 3 Uhr und ich die letzte bis 7 Uhr übernehme. Philipp erhält eine kürzere Wache, weil er grundsätzlich immer zur Verfügung steht, und bei fast jedem Manöver oder jeder Entscheidung dabei ist. Dieses System halten wir die ganze Zeit über ein, ausser bei prekären Wetterverältnissen. Dann teilen sich Lorenzo und ich die Nacht in abwechselnden 2-Stunden-Wachen, und Philipp ist Standby (wobei das unter diesen Umständen natürlich heisst, dass er ca. alle 30min irgend eine Entscheidung zu treffen hat oder aufbleibt, um Wetter und Schiff zu beobachten). Letzteren Modus müssen wir zum Glück nur während 2 Nächten fahren, ansonsten haben wir so alle komfortable 7 Stunden Schlaf am Stück pro Nacht.

Morgenstimmung 2

Sonnenaufgang (fast) jeden Morgen

Während der ersten 3 Tage demonstriere ich mal wieder tüchtig meine exzellenten Fähigkeiten zum Rückwärts-Essen: Ich kotze rund alle 4 Stunden weil ich mal wieder Seekrank bin. Ich dachte eigentlich, ich sei dagegen einigermassen immun, aber am Wind bei relativ starkem Wellengang schüttelt und schlägt das Boot mit den 7-8 Knoten, die wir fahren, halt schon ziemlich stark. Zum Glück fühle ich mich nach jedem Ueli-Ruf wieder blendend, d.h. das Übelkeitsgefühl kommt jeweils ziemlich rasch – würghustspotz – dann ist es wieder weg. Das habe ich bei anderen Leuten schon ganz anders gesehen, die so Seekrank waren, dass sie sich vor lauter Elend kaum noch bewegen konnten, das war bei mir zum Glück überhaupt nicht so. Nach 3 Tagen kann ich das Essen schliesslich wieder behalten und die Seekrankheit ist wie weggeblasen. Es kann noch so heftig schlingern und ich kann problemlos unter Deck auf dem Bauch liegend Wasser aus der Bilge pumpen, ohne auch nur einen Anflug von Übelkeit zu verspüren. Das scheint eine Regel zu sein: Philippe meint, er hätte noch nie jemanden gesehen, der länger als 4 Tage unter Seekrankheit gelitten hätte. Wer hätte das gedacht?

Krängung inkl.

Das Schiff steht quasi nonstop schräg für 18 Tage

Das äusserst komische Gefühl im Bauch, das man erlebt, wenn man in der Bugkabine bei starkem Seegang auf dem Rücken liegt, bleibt aber: Zuerst hebt sich der Bug (und damit der Magen) infolge einer Welle auf die man auffährt. Dann schlägt der Bug mit starker Beschleunigung abwärts, der Körper ebenfalls, wobei sich die inneren Organe aber immer noch in Aufwärtsbewegung befinden. Sie stossen deshalb an die Bauchwand (gulp!) und werden dort abrupt abgebremst (urgl?) und wieder nach unten geschleudert (bonk!), wonach sich das ganze wiederholt. Man kann ein ähnliches Gefühl beim Skifahren erleben, wen man mit starker Beschleunigung über eine Kuppe fährt. Aber auf dem Schiff findet es im liegenden Zustand statt, was um einiges komischer ist.

Schon wieder Wolken

Wolken und Wasser sind jeden Tag anders

Und nun zur Frage, die wohl den meisten Leuten auf der Zunge brennt: Was tut man während 18 Tagen zu dritt auf einem 16-Meter-Schiff? Denkt man über denn Sinn des Lebens nach? Wird man still, klein und bescheiden in Anbetracht der endlosen Weite des Meeres und der eigenen Unbedeutsamkeit darin? Ist man dauerspitz, wie sich das für einen Seefahrer gehört? Hat man Sehnsucht nach Land? Geht man sich auf die Nerven? Langweilt man sich ohne Ende? Vermisst man irgend etwas, z.B. ein heisses Bad oder die Bekanntgabe der Lottozahlen am TV? Neinneinneinnein. Man ist einfach. Man lässt (guten Gewissens) den Bart spriessen. Man bestaunt hin und wieder die zahlreichen, immer anders aussehenden Wolkenformationen. Man liest (auf Kindle oder auf Papier). Man kocht (in unserem Fall: ich, d.h. moi je suis le chef du cuisine). Man wäscht ab (sicher nicht ich). Man denkt sich die nächste Mahlzeit aus (das kann durchaus einige Zeit in Anspruch nehmen). Man nimmt hin und wieder eine Dusche (in Folge Wasserknappheit ca. alle 4-7 Tage, was aber gar nicht so ein Problem ist, weil man immer nur faul rumliegt und nie schwitzt). Man nervt sich je länger je mehr über die 25 Grad Neigung, die ständig vorherrschen (man kocht bergab, scheisst bergauf, liegt am Hang, hangelt sich durch den Salon, klammert sich an jeden Zipfel und Vorsprung und verflucht diejenigen, die nachgeben und reissen, weil man sie bei Ankunft reparieren muss: ich z.B. den Reissverschluss der Cockpitabdeckung). Man staunt über Vögel, die 2000km von jeglichem Land entfernt ums Schiff fliegen und versucht gleichzeitig, diese am Landen zu hindern, denn wer will schon Vogelkacke aufputzen? Man plaudert auf „Frenglish“ miteinander und versucht den Italiener in der Crew zu verstehen, wenn er mal wieder nonstop darauf los redet. Man trinkt mittags ein Bierchen und abends ein Schnäpschen (Ti-Punch mit Rum de Martinique), solange bis die Limetten ausgehen. Man sieht sorgenvoll die Nutella und die Ernussbutter zu Ende gehen. Man lädt 1x pro Tag mit Satellitentelefon den Wetterbericht runter und freut sich, wenn der Wind immer noch da ist. Man gönnt sich ein Nickerchen oder zwei. Kurz: total unspektakulär das Ganze; und nach ca. 10 Tagen ist es einem total egal, ob es jetzt noch 3 Tage, 1 Woche oder 2 weitere Wochen dauert, bis man ankommt. Unerwartete Antwort, gelle? Aber so ist es, glaubt es mir.

3 Monate!

28. Mai = 3 Monate unterwegs

So segeln wir also 18 Tage lang. Wir haben praktisch immer Wind, den Motor gebrauchen wir gerade mal 10 Stunden, meist, um durch eine Schauerzone mit Regen durchzufahren, da der Wind dort meist kurzfristig zusammenfällt. Während der ersten 2 Tage haben wir Südostwind, und können direkt aufs Ziel zuhalten. Danach dreht der Wind nach Osten und Nordosten, wodurch wir auf einen nördlicheren Kurs gezwungen werden. Sobald wir den 38. Breitengrad erreichen, müssen wir nach Osten aufkreuzen. Zu diesem Zeitpunkt, nach 2 Wochen (!) wenden wir zum ersten Mal – zur Freude von Lorenzo, weil er auf der Steuerbordseite schläft, und somit zum ersten Mal an der Wand liegen kann und nicht im Leebord klebt (das ist das Brett, das ein Rausfallen aus dem Bett verhindert). Bis hierhin haben wir jeden Tag mehr als 150sm gemacht, das entspricht einer mittleren Geschwindigkeit von 6kn, das Maximum war 180sm/Tag. Danach wird’s hart – mit diesem Boot (eine Amel Super Maramu 2000) kreuzt sich schlecht, wir können nur etwa 60 Grad gegen den Wind machen, d.h. wir pendeln sehr steil hin und her und machen plötzlich nur noch 50sm pro Tag aufs Ziel zu. Das geht echt an die Nerven, weil wir schon so nah sind, aber nicht mehr vorwärts kommen. Schlussendlich erreichen wir Horta auf Faial am 3. Juni um 8 Uhr morgens. Bei der Anfahrt haben wir superklares Wetter und können die Lichter der Insel schon um 4 Uhr morgens sehen und den Sonnenaufgang direkt über der Insel beobachten. Wir landen problemlos in der Marina und nach gut 420 Stunden auf See betreten wir zum ersten Mal wieder Land. Wir haben den Atlantik mit der mittleren Geschwindigkeit eines Fahrrads (ca. 15km/h) überquert!

Im Hafen von Horta

Yes, wir sind wieder an Land!

Nach einem gemeinsamen Ankunftsbier (noch an Bord), der Immigration (durch 4 Stellen = 1.5 Stunden), einer ausgiebigen Dusche, Kleiderwäsche und gründlichem Auslüften können wir uns wieder den Annehmlichkeiten der Zivilisation (sprich: Internet, Espresso und Patisserie), den Reparaturen am Boot und der Erkundung der Insel(n) widmen. Doch dazu mehr im nächsten Bericht, denn heute verlassen wir die Azoren schon wieder Richtung Gibraltar, wo wir wohl in 8-10 Tagen eintreffen werden.

Abwesenheitsnotiz

Es ist soweit! Wir sind unterwegs! Vor wenigen Minuten (11.37 Uhr) haben wir die Marina (18° 04.240 N, 63 °05.251 W) verlassen und segeln nun mit SE-Wind Richtung Ost, im Moment noch zwischen Anguilla und St. Martin, aber schon bald werden wir Kurs Nordost setzen, direkt auf die Azoren zu. Wenn alles super läuft, dann können wir bereits in 2 Wochen dort eintreffen. Wenn wir Flaute haben (und das ist anzunehmen, wegen stabiler Hochdruckgebiete weiter im Norden), dann dauert es wohl eher 3 Wochen bis wir ankommen. Bis dahin herrscht auf diesem Kanal Ruhe und der Schreiber dieser Zeilen ist nicht im geringsten erreichbar (in dringenden Fällen bitte das Sekretariat kontaktieren).

Boden

Hauptsache lange haltbar

Schrank

Hunger?

Das Boot ist randvoll gefüllt mit Zwieback, Pökelfleisch und Zitronen, wie in den guten alten Zeiten. Nun hoffen wir, dass der Skorbut keinen grossen Tribut fordert. Ha! Wer’s glaubt! Wir essen hier doch nicht wie die Klabautermänner. Neinneinnein. Der Einkaufszettel vom vergangenen Mittwoch listet für den bescheidenen Betrag von $793.60 unter anderem das folgende auf: 2kg Zwiebeln, 3kg Spaghetti und andere Pasta, Stocki und Reis, 15 Liter Milch, 36 Liter Wasser in Flaschen, Säfte, 6kg Äpfel und Birnen, 2.5kg Thon und Lachs in Dosen, Halbrahm, Mehl und Crème fraiche (wofür wohl?), 5kg Kartoffeln, ca. 5kg Büchsenmais, -erbsen und -rüebli, 3kg Fischfilets, 3kg Pouletbrust, Salami, 3 lt Rum aus Martinique plus eine Flasche Sirop de Canne und ein Kilo Limetten (für unzählige Ti-Punchs), Cola, Tee, Kaffee, Bouillon, Zucker, Salz, Pfeffer, Mayonnaise (nur aus Dijon, vergiss die amerikanische), Senf (dito), eingebüchste und frische Tomaten, Fertigsauce, einige Kilo Brot, ein kompletter Goudakäse für 2.5 kg, Fertigsuppen, Pommes Chips, frische Peperoni und Gurken, etc. etc., totalemente 3 Einkaufswagen voller Futter. Bon appetit!

Bitte drückt uns die Daumen, dass wir auf unserer 4000km langen Reise weder von Blitzen getroffen werden, noch auf einen schlafenden Wal auffahren. Wir würden auch gerne vermeiden, dass wir in einen verlorenen Container donnern, oder des Nachts von einem Frachter überfahren werden. Auch auf Seekrankheit oder andere Krankheiten können wir gut verzichten. Gerne dürft ihr uns guten Wind wünschen (möglichst nicht aus Osten), guten Fischfang, sonniges Wetter, gute Stimmung an Bord, sowie viele Wal- und Delfinsichtungen (nicht im schlafenden Zustand) und sternenklare Nächte.

See you on the other side!